Navigieren im Ungewissen (Teil 3/3): Zukunftsfähigkeit durch KI-Strategie: Architektur für das Unbekannte bauen

Leitthese: Zukunftsfähig ist, wer Unsicherheit zur Stärke macht. Eine KI-Strategie muss heute eine flexible Architektur schaffen – technologisch wie organisatorisch – um morgen auf unbekannte Entwicklungen reagieren zu können. Das Ziel: ein Unternehmen, das im Angesicht von Überraschungen nicht erstarrt, sondern geschickt umschaltet.

Planen für Unvorhersehbares

Wie kann man für etwas planen, das man nicht genau vorhersehen kann? Diese Frage treibt viele Chief Digital Officers und Strategiechefs um, wenn sie an KI denken. Niemand hat die sprichwörtliche Kristallkugel – zu offen sind die Pfade der KI-Entwicklung. Kommt in drei Jahren, oder morgen ein Durchbruch in Richtung AGI (generelle KI), der ganze Branchen revolutioniert? Oder erleben wir nach dem Hype einen KI-Winter mit Ernüchterung? Wahrscheinlich weder noch, sondern etwas dazwischen – aber was genau, weiß keiner.

Strategen großer Unternehmen bedienen sich daher zunehmend der Foresight-Methodik: Szenarien entwerfen, Schwache Signale beobachten, Optionen offenhalten. Ein beeindruckendes Beispiel lieferte die Initiative AI 2027: Sie wagte den Versuch, die nächsten Jahre der KI in einer detaillierten Story durchzudeklinieren. Das Spannende: Die Autoren formulierten zwei völlig unterschiedliche Ausgänge – einen, in dem die Entwicklung verlangsamt und sicherheitsbewusst verläuft, und einen, in dem ein Wettlauf entfesselt wird. Für Unternehmensstrategen ist weniger wichtig, welcher Pfad wahrscheinlicher ist, als bereit für beide zu sein. Oder wie Yoshua Bengio dazu schon 2023 schrieb: Solche konkreten Zukünfte helfen, wichtige Fragen zu erkennen und die potenzielle Auswirkung neuer Risiken zu illustrieren. Übertragen auf die Praxis heißt das: Eine robuste KI-Strategie fragt ständig Was wäre, wenn…? und hat Pläne in der Schublade. Was wäre, wenn nächstes Jahr ein Konkurrent eine KI-gestützte Dienstleistung lanciert, die unseren Kernmarkt angreift? Was wäre, wenn Regulierung X KI-Anwendungen Y verbietet? Wer solche Fragen gedanklich vorwegnimmt, erlebt seltener böse Überraschungen.

Flexible Technologie-Architektur: Plattform statt Produkt

Ein zentraler Aspekt der Zukunftsarchitektur ist die technologische Flexibilität. Unternehmen sollten heute die Grundlage legen, KI-Technologien wie Module austauschen und ergänzen zu können. Weg von monolithischen Legacy-Systemen, hin zu modularen KI-Plattformen. Ein Beispiel sind „AI Factories“ – interne Plattformen, auf denen verschiedene KI-Services (von Sprachmodellen über Bildkennung bis Optimierungsalgorithmen) bereitgestellt werden und von allen Geschäftsbereichen angezapft werden können. Statt für jedes Projekt neue KI-Infrastruktur aufzusetzen, gibt es einen zentralen Baukasten. Das ermöglicht es, neue KI-Modelle – die vielleicht in zwei Jahren state of the art sind – schnell ins Unternehmen zu integrieren, ohne monatelange IT-Projekte.

Während der Begriff „AI Factory“ ursprünglich (und das heißt um 2023 herum) primär interne Plattformen zur Bereitstellung von KI-Services bezeichnete, hat sich seine Bedeutung erweitert. Heute umfasst er sowohl groß angelegte, öffentlich geförderte Infrastrukturen in Europa als auch kommerzielle Dienstleistungsangebote von Unternehmen wie Deloitte. Diese Entwicklungen zeigen, wie zentralisierte KI-Ressourcen und -Plattformen die Entwicklung und Implementierung von KI-Anwendungen beschleunigen und vereinfachen können.

Im Januar 2024 kündigte die Europäische Kommission im Rahmen des „AI Innovation Package“ die Einrichtung von mindestens 15 AI Factories bis 2026 an. Diese sollen als zentrale Knotenpunkte für die Entwicklung vertrauenswürdiger, generativer KI-Modelle dienen und verschiedene Sektoren wie Gesundheit, Fertigung, Klima, Finanzen und Raumfahrt unterstützen. Die AI Factories nutzen die Supercomputing-Kapazitäten der EuroHPC Joint Undertaking und fördern die Zusammenarbeit zwischen Rechenzentren, Universitäten, KMU, Industrie und Finanzakteuren )

AI Factories & AIaaS – Beschleuniger für mutige Innovation

Die neue Generation von „AI Factories“ und ‑Plattformen macht Hochleistungs‑KI so verfügbar wie Cloud‑Speicher: Rechenleistung, Foundation‑Models und Microservices lassen sich heute in Minuten buchen. Wer diese Commodity‑KI als Sprungbrett nutzt, kann Prototypen in Tagen bauen, völlig neue Wertschöpfungsketten testen und Talente dort einsetzen, wo sie den größten Unterschied machen – bei Strategie, Kreativität und Kundennähe. AIaaS eröffnet zudem kollaborative Datenräume mit Partnern, Start‑ups und Forschung, sodass Ökosystem‑Innovationen schneller Wirklichkeit werden. Quasi eine Art Innovation-Fast-Track.
Standardmodelle liefern die Grundintelligenz, Ihr domänenspezifisches Wissen, Ihre Daten und Ihr Purpose veredeln sie zum differenzierenden Angebot. So wird aus generischer Technologie ein Wachstumsbooster, der Pioniergeist direkt in Marktchancen übersetzt.

Realbeispiel BMW – Plattform statt Silos

BMW hat früh eine gruppenweite Daten- und KI-Plattform aufgebaut, über die neue Machine-Learning-Modelle direkt auf Produktions- und Fahrzeugdaten zugreifen können Bereits 2023 lief im Werk Regensburg das interne Framework AIQX, mit dem BMW erste Foundation-Modelle für visuelle Qualitätsprüfungen pilotierte und damit die IT-Landschaft kaum anfassen musste. Seit 2025 skaliert dort das Folgeprojekt GenAI4Q: generative KI schlägt für rund 1 400 Fahrzeuge pro Tag individuell passende Prüfschritte vor.

Zukunftsfähige Technologie-Architektur bedeutet auch, die Datenbasis in Ordnung zu haben. Daten sind das Fundament, auf dem KI aufbaut. Viele Konzerne stellten 2024 erstaunt fest, dass die plötzliche Begeisterung für generative KI einen Nebeneffekt hatte: Endlich bekam das lange vernachlässigte Thema Datenqualität Aufmerksamkeit vom Top-Management. Denn um etwa ein großes Sprachmodell firmenintern zu nutzen, müssen Daten zentral verfügbar, bereinigt und auffindbar sein. Die Zäsur 2024 – KI als Hype – hat hier einen Wandel gebracht: Weg von „Daten sind ein IT-Thema“ hin zu „Daten sind Chefsache“. Dieser Kulturwandel in der IT-Architektur ist Teil der Zukunftsarchitektur: Nur wer seine Daten, Systeme und Schnittstellen heute zukunftsfest macht, kann morgen neue KI-Technologien implementieren, sobald sie auftauchen.

Organisationale Resilienz und Lernfähigkeit

Neben der Technik muss auch die Organisationsstruktur auf Zukunft getrimmt werden. Dazu zählt zunächst einmal, dass KI nicht in einer Innovationsecke isoliert bleibt. Forbes formulierte es jüngst sinngemäß so: Hört auf, eine separate KI-Strategie zu fahren – macht KI zum integralen Bestandteil eurer Geschäftsstrategie. Mit anderen Worten, es darf kein KI-Silos geben, wo ein „KI-Team“ etwas entwickelt, was nicht zum Rest passt. Die KI-Strategie ist die Unternehmensstrategie, insofern sie Vision und Ziele untrennbar mit KI-Möglichkeiten verknüpft.

Das spiegelt sich in den Strukturen: Führende Unternehmen richten interdisziplinäre KI-Zentren ein, die als interne Berater für alle Geschäftsbereiche fungieren. So wird KI-Know-how geteilt statt nur in einzelnen Projekten verkapselt. Manche Organisationen etablieren auch ein Netzwerk von KI-Champions – Mitarbeitende in verschiedenen Abteilungen, die zusätzlich geschult wurden und als Ansprechpartner vor Ort dienen. Diese Netzwerke fördern Agilität: Neue Ideen aus den Fachbereichen können schnell bewertet und ggf. umgesetzt werden, weil das Know-how verteilt ist.

Auch Governance trägt zur Resilienz bei: Klare Prinzipien zum Umgang mit KI (Ethikrichtlinien, Verantwortlichkeiten, Risikomanagement) geben Handlungssicherheit, wenn unerwartete Situationen eintreten. Beispiel: Wenn plötzlich ein Vorfall passiert – etwa ein KI-System verursacht einen öffentlichen Shitstorm durch einen Fehltritt – dann hilft es enorm, bereits einen Krisenplan und ein verantwortliches Team zu haben, anstatt ad hoc reagieren zu müssen. Eine vorausschauende KI-Strategie übt quasi den Notfall im Voraus (ähnlich einem Feueralarm-Drill). Einige Tech-Konzerne simulieren intern schon KI-„Game Days“, an denen sie durchspielen, was passieren würde, wenn ihre KI sich unerwartet verhält, und wie die Organisation reagiert.

Letztlich geht es darum, die Lernfähigkeit der Organisation auf ein neues Level zu heben. KI selbst lernt ständig dazu (Machine Learning), und das Unternehmen muss es ihr nachtun. Ein Konzept aus der Organisationsentwicklung ist hier hilfreich: die Ambidextrie, also Beidhändigkeit einer Organisation – einerseits das Kerngeschäft effizient betreiben (Exploitation), andererseits Neues erkunden (Exploration). KI zwingt uns, diese Ambidextrie auszubauen. Denn einerseits muss man kurzfristig mit KI Produktivität und Umsatz heben (das Tagesgeschäft verbessern), andererseits langfristig experimentieren, wozu KI noch fähig sein könnte (neue Geschäftsmodelle erfinden).

Fiktives Fallbeispiel: Ein großer Einzelhändler gründet 2025 ein kleines internes „Zukunftsbau“-Team (Exploration). Dieses Team hat freie Hand, radikale KI-Anwendungen auszuprobieren – z.B. vollautonome Filialen mit robotergestützter Bestückung, oder KI-Analysetools, die Trends vorhersagen und das Sortiment dynamisch anpassen. Parallel stellt der Händler sicher, dass im Tagesgeschäft (Exploitation) KI für Bestandsmanagement, personalisierte Werbung etc. genutzt wird. 2028 kündigt ein neuer KI-gestützter Online-Mitbewerber aggressive Preise und Lieferung per Drohnen an. Während viele traditionelle Händler erschrecken, kann unser Unternehmen gelassen reagieren: Das Zukunfts-Team hatte ein ähnliches Szenario antizipiert und bereits ein Konzept in der Schublade, wie man mit eigenen autonomen Micro-Fulfillment-Centern kontert. Binnen kürzester Zeit lässt sich dieses Konzept skalieren, weil – und das ist entscheidend – die Grundarchitektur (Daten, KI-Module, Partnerschaften) schon vorhanden ist. Hinweis: Dieser Fall ist fiktiv, zeigt aber realistische Mechanismen auf.

Subtile Navigation ins Unbekannte

Zukunftsarchitektur bedeutet also nicht, jedes mögliche KI-Feature schon heute zu kennen. Es bedeutet, die Organisation so aufzustellen, dass egal was kommt, man adaptieren kann. Das ist wie ein Schiff für unbekanntes Gewässer zu bauen: Man weiß nicht genau, welche Stürme oder Untiefen kommen, aber man wählt einen flexiblen Rumpf, trainiert die Mannschaft auf verschiedene Szenarien und hat Rettungsboote an Bord.

Ein oft übersehener Aspekt: Ökosystem-Integration. Zukunftsfähige Unternehmen öffnen sich nach außen, um das Tempo der KI-Entwicklung mitzuhalten. Kooperationen mit Start-ups, Forschungsinstituten oder sogar Konkurrenten (in pre-kompetitiven Bereichen wie Ethik oder Standardisierung) können Teil der Architektur sein. So beteiligt sich z.B. die Pharmaindustrie in gemeinsamen KI-Konsortien, um schneller von Fortschritten in der Molekülsynthese zu profitieren, als wenn jeder allein forscht. Oder Automobilfirmen kooperieren bei KI-Themen wie autonomes Fahren in Allianzen. Dieses Denken in Netzwerken erhöht die eigene Wendigkeit, weil man nicht alles selbst erfinden muss, sondern Plug-and-Play-fähig wird für neue Lösungen von außen.

Subtile Positionierung: Als strategische Transformationsberatung sehen wir von Innovationeers unsere Rolle oft genau an dieser Stelle: als Sparringspartner beim Entwerfen einer solchen Zukunftsarchitektur. Intern ist es schwer, eingetretene Pfade zu verlassen und wirklich unkonventionell zu denken – da hilft ein Blick von außen. Gemeinsam mit unseren Kunden entwickeln wir Roadmaps, die mehrdimensional sind: kurzfristige Quick Wins mit KI, mittelfristige Kompetenzaufbauten und langfristige Visionen. Wichtig ist uns dabei immer, Substanz vor Hype zu stellen. Es geht nicht darum, jede neue KI-Sau durchs Dorf zu jagen, sondern eine belastbare Strategie zu formen, die zum individuellen Unternehmen passt. Manchmal heißt das auch, zu bremsen: etwa wenn die Basis (Daten, Kultur, Governance) noch nicht stabil genug ist, um wild zu experimentieren. In anderen Fällen ermutigen wir, mutiger zu sein und Moonshots zu wagen, wo interne Skeptiker bremsen. Diese Balance zu finden, ist Kern einer guten KI-Strategie.

Fazit: Architektur für eine offene Zukunft

Eine gelungene KI-Strategie zeichnet sich letztlich dadurch aus, dass sie nicht starr ist. Sie ist kein fünf Jahres-Plan, der in Stein gemeißelt wird, sondern ein lebendes System, das sich fortlaufend anpasst. Die Architektur dafür umfasst Technologie, Menschen, Prozesse und Partnerschaften. Sie schafft Leitplanken, aber lässt genug Spielraum für Unerwartetes.

Zum Abschluss ein Bild: In einer Welt, in der KI die Spielregeln ständig neu schreibt, brauchen Unternehmen so etwas wie ein Navigationssystem mit Live-Update. Die Strategie ist der Kompass, aber die Architektur ist das Navigationssystem, das in Echtzeit Routenempfehlungen gibt, wenn der ursprüngliche Kurs versperrt ist. Unternehmen, die diese Kombination hinbekommen – visionäre Strategie + adaptive Architektur – werden diejenigen sein, die in fünf bis zehn Jahren zurückblicken und sagen können: Wir haben die KI-Revolution nicht nur überstanden, sondern aktiv mitgestaltet.

Und genau das ist das Ziel: Zukunftsfähigkeit durch KI-Strategie – heute die Weichen stellen, um morgen handlungsfähig zu sein, komme was wolle. Die Gewinner von morgen nutzen KI nicht nur zur Effizienzsteigerung, sie bauen mit KI Organisationen, die wandlungsfähig, resilient und mutig in die Zukunft gehen. Wir von Innovationeers freuen uns darauf, solche Wegbereiter zu begleiten – mit kritischem Geist, frischen Impulsen und der Überzeugung, dass Künstliche Intelligenz vom Menschen gemacht ist, um unsere Zukunft zu verbessern. In diesem Sinne: Lassen Sie uns die Architektur für das Unbekannte bauen, anstatt vor dem Unbekannten zu kapitulieren.

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