Strategic Foresight und KI – die neuen Spielregeln für langfristige Unternehmensstrategien (1/3)

Teil 1: Future Thinking & KI – Strategische Neuvermessung der Unternehmenszukunft

In dieser dreiteiligen Serie beleuchten wir, wie Künstliche Intelligenz (KI) die strategische Zukunftsplanung von Unternehmen revolutionieren kann.

KI verändert die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen vor allem dann nachhaltig, wenn sie in die strategische Vorausschau – das Future Thinking – fest integriert ist. Wer KI bloß als Effizienz-Tool im Tagesgeschäft betrachtet, riskiert den Anschluss an die Zukunft.

KI als Treiber der Zukunftsfähigkeit – mehr als nur Effizienz

Viele Unternehmen experimentieren inzwischen mit KI-Anwendungen, doch häufig bleiben diese Initiativen operativ und punktuell. Eine isolierte KI-Innovation garantiert noch keine Zukunftssicherheit, wenn sie nicht im größeren strategischen Kontext steht.

Führende Futuristen fordern daher einen umfassenderen Ansatz. Amy Webb etwa prägte den Begriff der Living Intelligence – ein Zusammenspiel von KI mit anderen aufkommenden Technologien (z. B. Sensorik, Biotech), das Systeme schafft, die kontinuierlich fühlen, lernen, sich anpassen und weiterentwickeln. Diese „lebendige Intelligenz“ soll einen exponentiellen Innovationszyklus antreiben und ganze Branchen neu definieren. Der springende Punkt: Nur wer KI nicht isoliert, sondern als Teil eines lebendigen, vernetzten Zukunftssystems begreift, wird die nächste Welle der Disruption mitgestalten. Unternehmen, die KI allein als IT-Projekt oder Automatisierungshelfer sehen, könnten eine entscheidende Entwicklung verpassen – nämlich die Fähigkeit, ständig aus Zukunftssignalen zu lernen und sich proaktiv neu aufzustellen.

Auch die obersten Führungsebenen erkennen zunehmend den strategischen Stellenwert von KI. Laut einer Gartner-Umfrage 2024 stimmen 87 % der CEOs zu, dass die Vorteile von KI die Risiken überwiegen. Digitale Technologien generell – und KI im Besonderen – gelten ihnen zufolge als Kernelemente künftiger Geschäftsstrategien, ähnlich wichtig wie z. B. Nachhaltigkeitsinitiativen. Mit anderen Worten: KI avanciert vom Tech-Trend zum zentralen Bestandteil der langfristigen Unternehmensagenda. Es geht nicht mehr um isolierte Pilotprojekte, sondern darum, KI in die DNA der Strategieentwicklung einzubetten.

Future Thinking im Kontext globaler Umbrüche

Strategische Vorausschau („Future Thinking“) ist in Zeiten multipler Umbrüche wichtiger denn je: Klimawandel, geopolitische Verschiebungen, gesellschaftlicher Wertewandel – und eben die rasante Evolution der KI – verändern das Umfeld, in dem Unternehmen agieren. Foresight-Methoden helfen, sich auf verschiedene Zukünfte vorzubereiten. Unternehmen nutzen etwa Threatcasting, um kommende Bedrohungen durchzuspielen, Wildcard-Analysen, um mit unwahrscheinlichen Extremszenarien umzugehen, oder Sci-Fi-Prototyping, um kreative Zukunftsbilder zu entwerfen. Der Clou dabei: KI kann diese Methoden potenzieren.

Schon heute ermöglichen KI-Tools, gewaltige Datenmengen für Horizon Scanning zu durchforsten, um schwache Signale für neue Trends zu erkennen. Wo früher Analysten monatelang Studien wälzten, scannt KI in Minuten wissenschaftliche Publikationen, Patente oder Social-Media-Diskurse und identifiziert Mustermuster. Ebenso können KI-Systeme unzählige Szenarien simulieren, indem sie Variablen durchspielen und deren Zusammenspiel modellieren. In klassischen Strategie-Workshops entwerfen Experten vielleicht eine Handvoll Zukunftsszenarien – heute generiert Generative AI auf Zuruf Dutzende nuancierter Zukunftsbilder und reagiert sogar dynamisch auf Feedback von Stakeholdern. Das Ergebnis ist ein „Zukunftsraum“ mit viel mehr Möglichkeiten als je zuvor. Unternehmen können diesen Reichtum an Szenarien nutzen, um robuste Strategien abzuleiten: Was würden wir tun, wenn Fall X oder Y einträte? Welche Optionen haben wir, wenn KI in fünf Jahren Geschäftsmodell Z ermöglicht?

KI dient dabei als kreativer Ko-Pilot der strategischen Planung. Sie ist kein Orakel, aber ein Beschleuniger: Mustererkennung und Rechenpower der Maschine treffen auf Intuition und Urteilskraft des Menschen. Aus dieser Kollaboration entsteht eine augmentierte Vorausschau, bei der AI-Vorschläge und menschliche Bewertungen sich in schnellen Schleifen gegenseitig verbessern. Studien zeigen bereits, dass solche Human-in-the-Loop-Ansätze Entscheidungen effizienter und zufriedenstellender machen können. Wichtig ist allerdings, dass der Mensch steuernd eingreift: Die pluralen Zukunftsbilder sollten von interdisziplinären Teams interpretiert werden, um Bias zu erkennen und strategisch relevante Implikationen herauszuarbeiten. KI liefert die Breite an Möglichkeiten – der Mensch sorgt für Tiefgang, Ethik und Kontext.

Neben Technologie-Trends dürfen Unternehmen die anderen großen Treiber nicht ausblenden. Etwa der Klimawandel: KI kann helfen, Klimarisiken und Ressourcenknappheit in Szenarien greifbar zu machen. So lassen sich adaptive Strategien für eine kohlenstoffarme Zukunft entwickeln. Ebenso im sozialen Wandel: KI könnte beispielsweise soziale Megatrends (Alterung, Urbanisierung, veränderte Werte) durch Simulationen verständlicher machen, um Strategien gesellschaftsfähig auszurichten. Future Thinking mit KI bedeutet also, technologische, ökologische und soziale Dimensionen gemeinsam zu denken. Die große Chance besteht darin, Nachhaltigkeit und KI-Strategie zu verknüpfen, statt sie getrennt zu behandeln – ein Ansatz, den zukunftsorientierte CEOs bereits verfolgen.

Nicht zuletzt muss das Thema Vertrauen mitgedacht werden. KI generiert zwar Erkenntnisse in nie dagewesener Fülle, doch zugleich wächst die Gefahr von Fehlinformationen und Bias. Foresight-Expert:innen warnen davor, Ergebnisse unkritisch zu übernehmen: Die Qualität der Vorausschau hängt davon ab, dass wir Daten und KI-Output kritisch prüfen und breit diskutieren. Foresight war stets ein inklusiver Prozess – KI darf kein black box-Orakel sein, sondern soll die Vielfalt an Perspektiven spiegeln und verstärken („AI as a mirror“). Das erfordert neue Governance-Regeln: transparente KI-Modelle, nachvollziehbare Empfehlungen und ethische Leitplanken. Nur so bleibt strategische Zukunftsplanung belastbar, anstatt zum Spielball algorithmischer Verzerrungen zu werden.

Neue implizite Annahmen für die strategische Planung

Die Integration von KI ins Future Thinking zwingt Unternehmen dazu, einige Grundannahmen ihres strategischen Handelns zu überdenken – und durch neue zu ersetzen. Welche impliziten Annahmen sollten Entscheider:innen heute treffen, um langfristig erfolgreich zu sein? Einige Leitideen:

  • Disruption ist die neue Konstante: Statt von einer linearen Fortschreibung der Gegenwart auszugehen, müssen Unternehmen damit rechnen, dass sprunghafte Veränderungen zur Normalität werden. KI-Entwicklungen können sich exponentiell beschleunigen, Märkte können sich innerhalb weniger Monate neu ordnen. Die Annahme sollte sein: Unser Geschäftsumfeld 2030 wird radikal anders aussehen als 2025 – und wir gestalten aktiv mit. Wer heute in Szenarien denkt, antizipiert Überraschungen besser, als wenn man stillschweigend Stabilität unterstellt.
  • „AI-First“ statt „Digital-First“ denken: In den letzten 20 Jahren lautete ein Mantra „Digitalisiere, was geht“. Doch KI erzwingt ein noch grundlegenderes Umdenken. Sie ist nicht einfach die nächste IT-Welle, sondern qualitativ anders – sie bringt Intelligenz in Prozesse, nicht nur Automation. Unternehmen sollten annehmen, dass alle Geschäftsbereiche von KI durchdrungen werden und ihre Strukturen darauf ausrichten. Silo-Denken hat in einer AI-First-Welt keinen Platz mehr. Statt bestehende Abläufe nur zu optimieren, geht es um Reinvention: Welche völlig neuen Lösungswege eröffnen sich durch KI? Brauchen wir unsere bisherige Wertschöpfungskette in dieser Form noch? Welche Rolle spielen Daten als strategischer Rohstoff? Kurz: Die implizite Annahme muss sein, dass nichts „gesetzt“ ist – Geschäftsmodelle, Arbeitsweisen, Erfolgskriterien gehören auf den Prüfstand.
  • Intelligente Zusammenarbeit Mensch+Maschine wird zum Standard: Führungskräfte sollten davon ausgehen, dass in Zukunft jedes Team ein Hybrid aus humaner und künstlicher Intelligenz ist. KI-Assistenten werden in Meetings mit „am Tisch sitzen“, Analysen zuliefern, Vorschläge generieren. Daraus folgt: Mitarbeiter aller Ebenen müssen KI-kompetent sein und Vertrauen in die Zusammenarbeit mit digitalen Co-Workern entwickeln. Die kulturelle Annahme ist hier: Lernbereitschaft und Anpassungsfähigkeit jedes Einzelnen sind so wichtig wie Fachwissen, weil die Rollen sich ständig weiterentwickeln im Tandem mit AI. Unternehmen sollten heute investieren in KI-Kompetenzen, aber auch in Ethik- und Urteilsschulung, damit Mensch und Maschine im Sinne der Unternehmenswerte agieren.
  • Nachhaltigkeit und Technik gehören untrennbar zusammen: Die Zeit, in der „grüne Themen“ getrennt von Technologie- und Strategiefragen behandelt wurden, ist vorbei. Zukunftsintelligenz heißt, ökologische und soziale Auswirkungen jeder Strategie mitzudenken. Implizite Prämisse: Langfristiger Unternehmenserfolg bemisst sich nicht allein in Finanzkennzahlen, sondern auch daran, ob das Geschäftsmodell in einer klimaveränderten, wertewandelnden Welt tragfähig ist. KI kann helfen, solche Faktoren früh in Strategien einzubauen – etwa indem sie den CO₂-Fußabdruck von Entscheidungen simuliert oder gesellschaftliche Stimmungen analysiert. Unternehmen sollten annehmen, dass sie ohne nachhaltige Ausrichtung keine Zukunft haben – und KI als Werkzeug nutzen, um dieses Ziel zu erreichen.

Zusammengefasst lautet die neue Spielregel: Strategieentwicklung darf sich nicht mehr auf vergangene Erfahrungen und lineare Planung stützen. Vielmehr müssen Führungsteams heute implizit davon ausgehen, dass Zukunft aktiv gestaltbar ist – mit KI als Schlüsseltool – und dass sie flexibel und mutig mit Ungewissheit umgehen müssen. Wer diese Haltung einnimmt, dem eröffnen sich enorme Chancen: KI wird vom reinen Effizienz-Booster zum Enabler für strategische Weitsicht. Future Thinking mit KI-Unterstützung wird so zum Kompass, der Unternehmen auch durch stürmische, unbekannte Gewässer navigieren kann.

Im kommenden zweiten Teil der Serie widmen wir uns dem Design Futuring – und erkunden, wie KI zum kreativen Sparrings­partner wird, wenn Führungskräfte mutige Szenarien entwerfen, kulturelle Hürden überwinden und ihre Innovations­strategien neu definieren. 

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