Navigieren im Ungewissen (Teil 1/3): Warum KI Unternehmen radikal verändern wird (Teil 1/3)

Teil 1: KI als Strukturbruch – Warum Innovation neu gedacht werden muss

Leitthese: Künstliche Intelligenz ist kein weiterer Effizienz-Baustein, sondern ein fundamentaler Strukturbruch, der Unternehmen zwingt, Innovation radikal neu zu denken. Wer KI nur als Tool zur Prozessoptimierung sieht, verkennt das Ausmaß des Wandels – ähnlich als hätte man die Dampfmaschine bloß als schnellere Kutsche betrachtet.

Aufbruch in ein neues Zeitalter

Führende KI-Forscher prognostizieren, dass der Einfluss von KI in den kommenden Jahren enorm sein und den der industriellen Revolution übersteigen wird. Tatsächlich vergleichen Vordenker den Moment, in dem wir uns befinden, mit der Erfindung des Buchdrucks – jedoch in 10-facher Geschwindigkeit. KI-Technologien entwickeln sich in Monaten oder gar Wochen weiter, während frühere technologische Revolutionen Jahrzehnte brauchten. Für Innovationsverantwortliche in Großunternehmen bedeutet das: Wir sind nicht am Vorabend, sondern mitten in einer historischen Umwälzung.Die alten Paradigmen von F&E und Produktentwicklung stehen Kopf, wenn KI-Systeme plötzlich selbstständig Ideen generieren, Entscheidungen vorbereiten und Aufgaben autonom ausführen.

Dieser Strukturbruch sprengt klassische Innovationsmodelle. Incrementalismus – kleine, schrittweise Verbesserungen – greift zu kurz, wenn KI die Spielregeln so rasch verändert. Wir befinden uns noch im Modem-Zeitalter der KI, aber das Modem läuft bereits in Lichtgeschwindigkeit“. Unternehmen müssen Innovation daher neu denken: weg von langen, auf Erfahrungswerten basierenden Zyklen hin zu agilen Experimenten und mutigen Sprüngen ins Ungewisse.

Jenseits des Effizienz-Narrativs

Das gängige Narrativ reduziert KI oft auf ein Effizienztool – eine Technologie, die Abläufe schneller und günstiger macht. Sicher, in der ersten Welle der KI-Adoption ging es vor allem darum, Prozesse zu automatisieren und Kosten zu senken. Doch diese Sicht greift viel zu kurz. Die wahre Wirkung entfaltet sich erst, wenn wir sehen, was darüber hinaus möglich ist, schreibt Philippe De Ridder, CEO von Board of Innovation. Nach der Effizienz-Welle folgt die Qualitäts-Welle, in der KI Produkte und Dienste besser statt nur schneller macht – etwa präzisere Diagnosen in der Medizin oder hyper-personalisierte Kundenerlebnisse. Und schließlich kommt die transformative Welle, in der KI vollkommen neue Systeme und Geschäftsmodelle schafft. Unternehmen, die jetzt darauf hinarbeiten, KI für qualitative Sprünge und radikale Innovation zu nutzen, werden die Führung übernehmen – wer stattdessen an reiner Prozessoptimierung klebt, könnte abgehängt werden.

Ein Beispiel: Viele traditionelle Finanzdienstleister nutzen KI bislang vor allem, um interne Abläufe zu beschleunigen oder Vorhersagen zu verbessern. Gleichzeitig denken Vorreiter bereits über KI-getriebene autonome Finanzagenten nach, die für Kunden in Echtzeit Vermögensentscheidungen treffen. Der Unterschied zwischen Effizienz und Transformation ist hier drastisch: Ersteres spart ein paar Prozent Kosten, letzteres definiert das Geschäftsmodell neu. Fiktives Szenario: Stellen wir uns Bank A vor, die KI nur einsetzt, um Berichte schneller zu schreiben, während Bank B einen virtuellen KI-Finanzberater entwickelt, der 24/7 individuelle Anlageempfehlungen gibt. Bank B erschließt damit ein völlig neues Leistungsversprechen – ein Zukunftsbild, das Bank A mit ihrer reinen Effizienzdenke niemals erreichen wird. Hinweis: Dieses Szenario ist fiktiv, aber technisch in greifbarer Nähe.

Innovationsblockade durch fehlende Vorstellungskraft

In unserer Beratungspraxis erleben wir häufig zwei Lager: Auf der einen Seite jene, die abwarten oder KI als Spielerei abtun; auf der anderen Seite jene, die KI als Game Changer begreifen und experimentieren. Erstaunlich viele große Unternehmen haben bisher entweder faktisch KI ignoriert – obwohl ihre eigenen Mitarbeiter längst damit arbeiten – oder sie als gewöhnliches IT-Tool wie ein weiteres Wissensmanagement-System behandelt (Signs and Portents – by Ethan Mollick – One Useful Thing). Der US-Professor Ethan Mollick spricht hier von einem gefährlichen Mangel an Vorstellungskraft, der Unternehmen schadet. Wer heute KI nur halbherzig behandelt, könnte morgen bereits den Anschluss verlieren. So waren laut einer aktuellen Erhebung von BCG 74% der Firmen 2024 noch nicht in der Lage, mit KI messbaren Mehrwert zu erzielen – trotz Pilotprojekten und Investitionen. Es mangelt weniger an Technologie als an kühnen Zielen und organisatorischer Verankerung.

Dabei gibt es positive Gegenbeispiele: Das Traditionsunternehmen John Hancock (Versicherungen/Finanzdienstleistungen) berichtete 2025, dass bereits 70% der Belegschaft KI-Tools aktiv im Arbeitsalltag nutzen. Dieser hohe Adoptionsgrad in kurzer Zeit zeigt, dass eine klare Vision und Schulung Mitarbeiter befähigen kann, KI breit einzusetzen – hier wurde KI nicht als Randprojekt, sondern als zentraler Bestandteil der Unternehmensstrategie verankert. Zum Vergleich: Viele Fortune-1000-Konzerne „suchen noch die Auffahrt zur KI-Autobahn“, wie es bei der oben schon erwähnten MIT-Konferenz hieß (AI’s ‘Printing Press’ Moment — and Why Fortune 1000s Are Lagging – InnoLead). Der Unterschied liegt in der Haltung des Top-Managements. John Hancock entschied sich bewusst für einen transformativen Ansatz – KI für jeden zugänglich zu machen – statt nur für punktuelle Effizienzsteigerung.

Innovation neu denken – jetzt

KI als Strukturbruch ernst nehmen heißt, Innovation neu zu definieren. Es genügt nicht, ein Innovationslabor mit ein paar Data Scientists aufzusetzen oder einen „Chief AI Officer“ zu ernennen, ohne das Kerngeschäft zu berühren. Vielmehr müssen Führungskräfte fragen: Welche völlig neuen Möglichkeiten eröffnet uns KI für unsere Wertschöpfung? Wo können wir Geschäftslogik auf den Kopf stellen? Und vor allem: Wie müssen wir unsere Innovationsprozesse anpassen, um mit dem Tempo der KI-Entwicklung Schritt zu halten?

Ein zukunftsweisender Ansatz ist beispielsweise das Arbeiten mit Szenarien und Experimenten. So hat eine Gruppe von KI-Experten um Daniel Kokotajlo das Szenario AI 2027“ entwickelt, um konkret durchzuspielen, wie sich KI in den nächsten Jahren entfalten könnte. Interessanterweise haben sie zwei alternative Ausgänge geschrieben – einen „Slowdown“ und einen „Race“-Verlauf – um unterschiedliche Zukünfte greifbar zu machen. Diese Art von Vorausschau schärft den Blick dafür, welche Fragen wir uns heute stellen müssen, um für verschiedene Entwicklungen gewappnet zu sein. Für Innovationsverantwortliche großer Unternehmen kann es äußerst wertvoll sein, ähnliche Was-wäre-wenn-Übungen durchzuführen: Was, wenn in drei Jahren ein KI-System auf den Markt kommt, das unsere gesamte Branche umkrempelt? Haben wir die Strukturen, um schnell zu reagieren – oder sogar selbst Treiber einer solchen Entwicklung zu sein?

Unsere Haltung: Aus Sicht von Innovationeers bedeutet KI-Thought-Leadership vor allem, unbequeme Fragen zu stellen und liebgewonnene Annahmen über Bord zu werfen. Etablierte Innovationsmethoden – von Stage-Gate-Prozessen bis F&E-Portfolien – gehören auf den Prüfstand. Statt jährlicher Innovations-Roadmaps brauchen große Unternehmen ein dynamisches Innovationsbetriebssystem, das laufend aus der Interaktion von Mensch und KI lernt. Dazu zählt, Experimente mit KI zu fördern, bereichsübergreifende Teams zu bilden und Risiken bewusst einzugehen.

Kurz gesagt: Innovation neu denken heißt, KI als historischen Strukturbruch anzuerkennen und mutig darauf zu reagieren. Wer heute anfängt, mit KI neue Zukunftsbilder zu entwerfen und entsprechende Weichen zu stellen, schafft die Grundlage für die Wettbewerbsvorteile von morgen.

Die nächsten Artikel dieser Serie vertiefen, was das für die Menschen in der Organisation und für die strategische Architektur bedeutet – denn Technik allein macht noch keine Zukunft.

Newsletter

Keep up to date — get updates with latest topics