Strategic Foresight und KI – die neuen Spielregeln für langfristige Unternehmensstrategien (2/3)

Teil 2: Design Futuring & KI – Wie Innovationsstrategien durch Zukunftsbilder neu definiert werden

Innovationen entstehen nicht im luftleeren Raum – sie brauchen inspirierende Zukunftsbilder, die Richtung geben. In diesem Teil werfen wir einen Blick darauf, wie Design Futuring (das visionäre Entwerfen zukünftiger Möglichkeiten) Innovationsstrategien prägt.

Zentrale These: KI kann zum Katalysator für solche visionären Design-Prozesse werden und einen kulturellen Wandel in Unternehmen fördern. Anstatt nur auf bewährte Produkte und Märkte zu schielen, erlaubt der KI-gestützte Blick in mögliche Zukünfte, Innovationspotenziale neu zu definieren.

Visionäre Zukunftsbilder als strategischer Kompass

Führungskräfte, die Innovation steuern, stehen oft vor einem Dilemma: Setzen sie auf schrittweise Verbesserungen des Bestehenden (geringes Risiko, aber auch begrenzter Ertrag) oder wagen sie radikale Neuerungen, die das Geschäft wirklich voranbringen? Zukunftsbilder – also konkretere Visionen, wie Märkte, Kundenbedürfnisse oder Technologien in 5, 10 oder 15 Jahren aussehen könnten – liefern hierfür einen Kompass. Sie helfen, Innovationsbemühungen an einem langfristigen Nordstern auszurichten, statt ziellos im Hier und Jetzt zu iterieren.

Beispiel: Ein Automobilkonzern, der sich ein klares Zukunftsbild der „Stadt der Zukunft 2035“ erarbeitet (mit autonomen Shuttles, vernetzten Verkehrssystemen, emissionsfreien Zonen), kann seine Innovationsprojekte gezielt darauf ausrichten – sei es durch Investitionen in KI-gestützte Verkehrsoptimierung oder neue Mobilitätsdienstleistungen. Ohne ein solches Bild würde man vielleicht einfach das nächste Verbrennermodell etwas effizienter machen. Zukunftsbilder stiften Sinn und Dringlichkeit: Sie schaffen ein gemeinsames Verständnis im Unternehmen, wohin die Reise gehen soll, und motivieren Teams, kreativ auf dieses Ziel hinzuarbeiten.

Traditionell wurden solche Visionen durch Trend- und Kundenforschung sowie die Intuition erfahrener Strateg:innen entwickelt. Jetzt kommt KI ins Spiel: Durch ihre Fähigkeit, riesige Informationsräume zu durchkämmen und Muster zu erkennen, kann KI neue, unerwartete Verbindungen herstellen – und damit deutlich mehr originelle und gleichzeitig plausible Zukunftsszenarien generieren, auf die ein menschliches Team allein vielleicht nicht gekommen wäre. Generative KI kann z. B. Text- oder Bildimpulse liefern: ein KI-Modell entwirft in Sekunden viele Varianten einer „Innenstadt 2030“ oder skizziert Konsumtrends für eine alternde Bevölkerung. Solche KI-generierten Entwürfe müssen nicht „stimmen“ – aber sie dienen als Denkanstoß und Gesprächsgrundlage. Plötzlich stehen Bilder und Storyboards zur Verfügung, die Diskussionen im Innovations-Team auf eine neue Ebene heben: weg von reinen Vermutungen, hin zu greifbaren Alternativen, die auf realen Daten und  sogenannten „Signalen“ beruhen, die bereits in der Gegenwart beobachtet werden können. 

“The future is already here — it’s just not very evenly distributed.”
(„Die Zukunft ist schon da, aber noch nicht überall gleich verteilt.“)

— William Gibson

Ein anschauliches Beispiel liefern autonome Robotaxis:  Waymo bietet seit 2018 fahrerlose Fahrten in Phoenix an; in San Francisco und Los Angeles fährt Waymo One seit 2023/24 in ausgewählten Zonen. In Austin startete Ende 2024 eine Pilot­phase, die 2025 auf erste öffentliche Fahrten ausgeweitet wird, aber noch begrenzte Nutzer­kreise hat. An manchen Orten ist das die Zukunft (Robotaxi) schon Alltag, während es in den meisten Städten der Welt noch Science-Fiction ist.

 

Für unser Design Futuring bedeutet das: Wer solche „Zukunftstaschen“ oder Signale gezielt beobachtet – etwa Pilotstädte für autonome Mobilität – kann aus realen Vorboten strategische Prototypen ableiten. KI gestützte Suche kann dabei helfen deutlich schneller relevante Signale zu finden und daraus Szenarien abzuleiten. So gestalten wir Innovations­pfade nicht im luftleeren Raum, sondern bauen auf tatsächlich vorhandene Keimzellen der Zukunft auf. Dabei werden verschiedene Siganle und Trends miteinander kombiniert und so durch verschiedene Methoden alternative Zukunftsszenarien abgeleitet und in Bezug auf ihre Plausibilität bewertet. 

Wichtig ist, dass diese Zukunftsbilder nicht zur bloßen Fantasie bleiben, sondern in die Strategie einfließen. Hier zeigt sich der strategische Nutzen: Aus Visionen werden Roadmaps. Wenn wir überzeugt sind, dass bestimmte Zukunftsbilder so oder ähnlich vermutlich eintreten werden (etwa KI-basierte personalisierte Medizin), dann leiten wir gezielt Innovationsinitiativen ab, um uns darauf vorzubereiten oder, sofern es ein erwünschtes Szenario ist, darauf hinzuwirken, dass es auch eintritt (z. B. Investition in Datenplattformen für Gesundheitsdaten, Partnerschaften mit KI-Startups, Umschulung von Mitarbeiter:innen auf datengetriebene Diagnostik). Die Vision fungiert als Backcasting-Ausgangspunkt: Man denkt vom Zukunftsbild zurück in die Gegenwart und fragt „Was müssen wir heute tun, um mit diesem Szenario umgehen zu können oder dieses Bild Realität werden zu lassen?“. So werden Innovationsstrategien proaktiv und zukunftsgerichtet, statt nur auf aktuelle Marktveränderungen zu reagieren.

KI als kreativer Sparringspartner im Design-Prozess

Im Innovations-Alltag stehen Kreativteams oft vor dem berüchtigten leeren Blatt: Wie könnte ein radikal neues Produkt aussehen? Welche Geschäftsmodellinnovation trifft den Nerv der Kunden von morgen? Hier entfaltet KI ein bislang kaum gekanntes Potenzial als Ideen-Generator und Co-Designer. Moderne Generative-Design-Tools erlauben es, in kurzer Zeit Unmengen von Entwurfsoptionen zu produzieren – sei es in Form von textlichen Konzeptskizzen, visuellen Prototypen oder sogar simulierten Nutzererlebnissen.

Das Team nutzte KI als kollaboratives Werkzeug, einen immer verfügbaren „zweiten Kopf“ im Designprozess. Durch geschicktes Prompting wurden der KI zunächst grobe Designziele gegeben. Die KI antwortete mit unterschiedlichsten Interpretationen – teils unsinnig, teils vielversprechend. Menschliche Designer bewerteten diese, verfeinerten die Prompts  und lassen die KI erneut Entwürfe für Szenarien oder passende Produkte und Strategien generieren. Dieses iterative Ping-Pong zwischen menschlicher Kreativität und Maschineninput öffnete „Denk-Räume“, die jenseits tradierter Lösungen lagen. Am Ende steht nicht selten ein disruptives Konzept, das im Idealfall neue Maßstäbe setzt – geboren aus der Symbiose von Designer und Algorithmus.

Der Mehrwert solcher KI-Unterstützung liegt nicht darin, dass die Maschine die eine perfekte Idee oder eine „wahre“ Vorhersage der Zukunft ausspuckt, sondern darin, dass sie den Horizont erweitert. KI ist unbefangen gegenüber Branchenlogiken und Denkmustern – sie kombiniert Wissen neu und produziert auch mal absurde Vorschläge. Im besten Fall provoziert genau das einen Geistesblitz beim menschlichen Team. Viele Innovationsabteilungen nutzen bereits generative KI in frühen Brainstormings, um z. B. alternative Nutzerszenarien generieren zu lassen – quasi als „fremde Sicht von außen“. Andere experimentieren mit Bild-KIs, um visuelle Zukunftsvisionen zu erstellen: Wie könnte unser Produktportfolio in einer Welt aussehen, in der z. B. Sharing Economy dominiert oder in der Nutzer komplett in AR/VR-Welten eintauchen? Die entstehenden Bilder und Storyboards kann man in Workshopräumen aushängen – sie machen Zukunft greifbar und fördern ein gemeinsames Verständnis, was innoviert werden soll.

Neben den konkreten Ideen beeinflusst KI auch die Kultur im Innovationsprozess. Traditionell gilt Produktentwicklung als Domäne genialer Einfälle Einzelner – nun wird sie mehr und mehr zu einem dialogischen Prozess zwischen Mensch und Maschine. Das erfordert zunächst eine offene Haltung im Team: KI-Outputs dürfen nicht als Bedrohung („ersetzen die uns?“) gesehen werden, sondern als Bereicherung. Wenn ein Algorithmus z. B. einen vollkommen verrückten Vorschlag bringt, sollten Teams lernen, diesen nicht vorschnell abzutun, sondern zu fragen: Was können wir daraus lernen? Vielleicht steckt im absurden KI-Konzept ein bisher übersehener Aspekt, der weiterverfolgt Gold wert ist. Eine Kultur, die Experimente zulässt und auch Scheitern als Lernchance begreift, profitiert am meisten von solchen Tools.

Ein weiterer kultureller Effekt: Interdisziplinäre Zusammenarbeit wird durch KI erleichtert. Früher sprachen Designer, Technologen, Marketer oft verschiedene Sprachen. KI-Visualisierungen und -Simulationen können als gemeinsame Diskussionsgrundlage dienen, die alle verstehen. Wenn etwa eine KI einen Prototyp eines neuen Serviceablaufs animiert, sehen Vertrieb, IT und Design zugleich vor sich, worum es geht – das abstrakte Zukunftsbild wird konkreter. So fördert KI Co-Creation: alle Beteiligten – und sogar externe Stakeholder wie Kundengruppen – können einfacher eingebunden werden, weil KI-Tools komplexe Ideen übersetzen helfen.


Fiktive Zukunftsszene – Innovationslabor 2030, morgens 9 Uhr

Das „Future Lab“ eines Industriekonzerns im Jahr 2030: Ein interdisziplinäres Team aus F&E, Marketing und Strategie versammelt sich um einen holografischen Tisch. In der Mitte schwebt das 3D-Modell einer futuristischen Maschine – erzeugt von einer KI über Nacht. Die Leitung, Elena (Head of Innovation), begrüßt das Team.

Elena: Willkommen, alle zusammen. Unsere KI-Designassistentin hat basierend auf den gestrigen Kundeninterviews drei neue Konzeptvarianten durchgerechnet. Schauen wir uns Variante B an – ein voll modulare Maschine, die sich selbstständig an Produktionsänderungen anpasst. Spannend: Die KI hat einen Recycling-Workflow integriert, den wir so nicht auf dem Schirm hatten.

Alex (Produktentwickler): Interessant. Die Simulation zeigt sogar, wie sich das Material alter Module für neue Geräte wiederverwenden ließe. Das passt perfekt zu unserem Nachhaltigkeitsziel!

Fatima (Strategie): Bevor wir uns verzetteln: Wie deckt sich das mit unseren Zukunftsszenarien? KI, zeig uns bitte die Marktsituation 2035 im Szenario “Green Globalization”.

(Auf Kommando blendet die KI-Marktanalyse Trends ein: strengere Umweltgesetze, globaler Fachkräftemangel, etc.)

Fatima: Hier sehen wir, dass modulare, ressourceneffiziente Maschinen 2035 einen echten Wettbewerbsvorteil hätten. Variante B würde uns strategisch vorbereiten.

Ben (UX-Designer): Aus Nutzerperspektive gefällt mir das. KI, spiel mal das Kunden-Feedback aus, falls wir Variante B launchen.

(Der Assistent projiziert ein fiktives Social-Media-Feedback: Lob für die Nachhaltigkeit, Fragen zur Kompatibilität mit älteren Systemen.)

Elena: Genau dafür liebe ich unser Future Lab: Wir testen die Zukunft, bevor sie passiert. Variante B scheint sowohl technisch machbar als auch strategisch sinnvoll. Lasst uns darauf fokussieren und weiter ausarbeiten – Mensch und KI im Duo.

Das Team nickt – motiviert, die Vision in die Tat umzusetzen…

Diese fiktive Szene zeigt plakativ, wie das Zusammenspiel von KI und menschlicher Kreativität im Jahr 2030 aussehen könnte. Natürlich ist das heute noch nicht überall Realität. Aber viele Unternehmen machen bereits Schritte in diese Richtung. Strategische Fragen für heutige Entscheider:innen lauten daher zum Beispiel:

  • Haben wir Prozesse, um Visionen der Zukunft systematisch in unsere Innovationspipeline einfließen zu lassen?
  • Setzen wir KI bereits als kreatives Werkzeug ein – über bloße Datenanalyse hinaus – um radikal neue Ideen zu generieren?
  • Wie müssen wir unsere Führungskultur gestalten, damit Teams mutig mit KI experimentieren können? (Bestrafen wir Fehler oder lernen wir aus ihnen?)
  • Verfügen unsere Innovationsteams über die Skills, KI-Tools kompetent zu bedienen und die Ergebnisse kritisch-kreativ zu nutzen?
  • Und schließlich: Messen wir Innovationserfolg nur an kurzfristigen ROI-Kennzahlen, oder honorieren wir auch zukunftsweisende Experimente, die langfristig Wert schaffen?

 

Solche Fragen zielen darauf ab, Innovationsmanagement vom tradierten „Fehlervermeiden und Optimieren“ hin zu „Zukunft erkunden und gestalten“ zu bewegen. KI kann dabei als Beschleuniger dienen – aber die Weichen stellen müssen die Führungskräfte. Es geht darum, Visionen zuzulassen, Zukunftsbilder im Unternehmen lebendig zu halten und die Organisation darauf vorzubereiten, auch Unbekanntes auszuprobieren. Wer das beherrscht, wird durch KI-gestütztes Design Futuring mit hoher Wahrscheinlichkeit Wettbewerbsvorteile erzielen: Innovationsstrategien werden mutiger, vielfältiger und zugleich abgesichert durch die vielen Tests, die man virtuell in der Zukunft schon durchgespielt hat.

Aus Zukunftsbildern werden jetzt Führungsaufgaben. Nachdem wir gesehen haben, wie KI eure Innovationsstrategien beflügelt, rückt im nächsten Teil die zentrale Frage der Unternehmensführung in den Fokus: Wie macht ihr diese neuen Möglichkeiten dauerhaft entscheidungsrelevant? In Teil 3 – Strategic Foresight als Führungsdisziplin zeigen wir, wie Boards und C-Level KI-gestützte Foresight verankern, um zwischen Tagesgeschäft und Langfrist-Agenda den Kurs zu halten – und warum echte Zukunftsfähigkeit erst entsteht, wenn Governance, KPIs und Kultur auf ein lernendes Strategie-System umgestellt werden. Bleibt dran!

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